Original Blog für das Goethe Institut Helsinki auf: http://blog.goethe.de/finnland/index.php?/authors/15-Dirk-Huelstrunk

Blog Part 1 –  Notizen von einem „ungewöhnlichen Ort“

Blog Part 2 – Landleben in Sysmä

Blog Part 3 – Schweigen, Reden, Trinken

 

1-4. April 2011 (Helsinki)

„You are logging in from an unusual place“, behauptet Facebook und bezweifelt meine Identität, die ich durch allerhand Sicherheitsabfragen beweisen muss. Der ungewöhnliche Ort ist Helsinki im April. Stadt im weissschmuddelgrauen Winterdress. Weisse Strassen, weisse Seen. Selbst die Luft ist salzig-neblig-weiss. Im alten Hafen stochern die Masten der Segelschiffe durch die Nebelsuppe, während im Hintergrund die Uspenski-Katedrale in schmutzigem Grau-Rot versinkt. Ich versinke in der Zeit und tauche auf einer verblassten Postkarte aus dem 19. Jahrhundert auf.

Am Neuen Hafen ist die riesige Silja-Line Fähre hinter den träge schwappenden Eisschollen kaum auszumachen. Traniges Winterdämmerlicht. Riesige graue Schildkröten kriechen über staubgraue Schneeberge….nein, ich habe nicht zuviel Vodka getrunken. Die Schildkröten existieren. Schildkrötenskulpturen aus Beton, die die Stadtreinigung hier am Hafen offenbar zusammengekehrt hat. Einige auf dem Rücken, andere aufrecht im Schnee, nach Luft schnappend, andere im Kriechen erstarrt.

Die Kommentare meiner Facebook Freunde nach dem ersten Fotopost: „oh je“, „iiihh“, „wohin hat´s dich denn verschlagen?“

Harri Hertell, den jungen Literaturveranstalter der „Helsinki Poetry Connection“ treffe ich im holzgetäfelten „Punavuoren ahven“ Pub, der mit einer ungewöhnlichen Auswahl an Spezialbieren punktet. Wir beginnen mit dem lokalen „Stadin Panimo Paleale“, ein kräftig bitteres Bier, gefolgt von einem hellen „Kaisari Luomo“. „Luomo“ = Bio. Ich lerne, dass Nokia nicht nur ein Handyhersteller ist, sondern auch eine Stadt mit Bierbrauerei. Auf der Toilette stellen ich fest, dass auch der Papiertücherautomat „Nokia“ heisst.

Harri ist vermutlich einer der wichtigsten Aktivisten der jungen Spoken Word & Poetry Slam Szene. (Poetry Slam heisst hier „runopuulaki“, runo = Gedicht, puulaki = Wettbewerb). Organisiert u.a. den Helsinki Poetry Jam im Cafe Mascot, eine Bühne für Spoken Word und Musik, aber kein Wettbewerb. Er überlegt sich, demnächst Eintritt zu nehmen. Bisher ist es absolut unüblich, für Literaturveranstaltungen Eintritt zu verlangen. Die meisten Veranstaltungen werden wohl von kommunalen oder staatlichen Stellen subventioniert. Doch Harri befürchtet, dass sich das ändern könnte. Die neue rechtspopulistische Partei „Perus Suomalaiset“ (Die echten Finnen) hat bei den Parlamentswahlen am 17. April wohl gute Chancen und könnte an der nächsten Regierung beteiligt sein. Ihr Programm schüre nicht nur Überfremdungsängste sondern wende sich auch gegen die Subventionierung moderner Kunst und Literatur. In der Kulturszene gehe daher die Angst um, dass diese Partei massive Kürzungen im Kulturbereich durchsetzen könnte.

Ich erfahre auch, dass es trotz oberflächlicher Homogenität der finnischen Gesellschaft immer noch eine untergründige Spaltung nach den alten Bürgerkriegsfrontlinien gebe (Weisse vs. Rote). Die „Weissen“ bzw. „Rechten“ Kräfte um den legendären General und Nationalhelden Mannerheim waren bekanntlich die Sieger im finnischen Bürgerkrieg. Ein befreundeter Schriftsteller, der sich in einer Radiosendung vor ein paar Jahren kritisch über Mannerheim geäussert hätte, würde bis heute Morddrohungen erhalten.

Überall Wahlkampfstände, Wahlplakate. Auf den Plakaten sind meist mindestens ein dutzend Kandidaten abgebildet mit Berufsangabe und Listennummer. Gewählt werden – so wie ich es verstanden habe, nicht Parteien, sondern die einzelnen Kandidaten werden direkt ins Parlament gewählt. Jeder Wähler hat dabei nur eine Stimme, muss sich also für einen Kandidaten entscheiden.

Am Sonntagnachmittag treffe ich Mikael Brygger, experimenteller Dichter und Herausgeber der Literaturzeitschrift „Tuli&Savu“ im Cafe Lasipaalatsi. Mit dabei ist meine Berliner Freundin und Künstlerin Gabi Schaffner, die morgen zu einem Stipendium in Turku fährt. Unterhaltung über Minimalismus und Übersetzung. Mikael lädt mich ein, Texte für die Zeitschrift „Tuli & Savu“ zu schicken und empfiehlt mir einige Tage in Jyväskylä zu verbringen. Der Herausgeber des Online Magazins Nokturno für Soundpoetry und visuelle Poesie Marko Niemi hatte mich ohnehin eingeladen, hier zu performen. Jyväskylä, so Mikael sei neben Helsinki einer der interessantesten Orte für experimentelle Poesie.

 

 

 

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