Blog Part 3 Schweigen, Reden, Trinken
Dass Finnen stundenlang in schummrigen Kneipen dünnes, teures Bier anstarren und sich ANSCHWEIGEN, diese Vorstellung hat sich spätestens seit den Filmen von Aki Kaurismäki bei uns Deutschen festgesetzt. Ich suche die SCHWEIGENDEN Finnen jedoch bislang vergeblich. Die Finnen, denen ich begegne, sind ausnahmslos sehr kommunikationsfreudig. Sie erzählen von ihren Projekten, ihren Jobs, ihren Partnern, Geld- und Sexproblemen, über Neurosen, Psychosen, Depressionen, Sauna, Politik, Wetter, Kochen und alles andere auch…
Nicht nur meine Künstler- und Schriftstellerbekannten sind mitteilungsfreudig. Auch die Busfahrer, Supermarktverkäufer, Mitreisende oder zufällige Gäste in der Bar – Alle haben ein enormes Kontaktbedürfnis, das selbst die mitunter vorhandene Sprachbarriere nicht bremsen kann.
Die Einheimischen geben mir folgende Erklärungen:
- Mit Ausländern reden Finnen mehr, als untereinander
- Künstler und Schriftsteller reden mehr, als andere
- In Helsinki redet man mehr, als andernorts
- die Leute im Süden reden mehr, als im Norden
- die Leute im Westen reden mehr (und schneller), als im Osten
- die Leute im Osten reden mehr, als die im Westen
- Junge reden mehr als Alte
- In der Öffentlichkeit wird geredet, zu Hause geschwiegen
- Zum Reden braucht es ausreichend Alkohol
Nach diesen Kriterien müssten die Einwohner von Sysmä als Schweiger prädestiniert sein: einfache Landbevölkerung. Die Menschen der Region Häme seien ohnehin ein bisschen schwerfällig und langsam, versichern mir meine Bekannten in Helsinki. Am Freitagabend führen Juha und einen Feldversuch durch. Ziel: Lokalbevölkerung kennenlernen. Schweigende Menschen treffen. Methode: Kneipentour.
Wir beginnen bei der „Matka Baari“ am Busbahnhof. Dort hatten wir schon am Vormittag vorwiegend ältere Damen und Herren langsam aber stetig und scheinbar schweigend trinken sehen. Die Bar ist finster und ein Schild sagt: geöffnet bis 17 Uhr. Auch alle anderen Bars sind geschlossen. Nur vor der Bar des Hotels „Uoti“ deutet ein Türsteher auf Leben hin. Ein Plakat kündigt einen „Karaoke Abend“ and. Das Licht ist schummrig von gelegentlichen Diskokugelblitzen durchbrochen. Orange-rote Blumenmustertapete, leere Tanzfläche, gelangweilte Dame mittleren Alters in einer Art Busfahreruniform an der Karaoke-Maschine. Sie legt abwechselnd Credence Clearwater Revival und finnisch umgetextete internationale Popsongs aus den 1970er bis 1980er Jahren auf. Ein Dutzend Gäste haben sich in den braun gepolsterten Sitzgruppen niedergelassen und starren gelangweilt in ihr Bier, wenn sie nicht schweren Schrittes zum Karaoke wanken.
Hier bin ich richtig, denke ich. Hier wird noch geschwiegen. Doch wir haben uns noch nicht niedergelassen, da winkt uns ein kleiner stämmiger Mann mit groben, schwieligen Händen zu sich an den Tisch. Der Mann WILL reden, auch wenn es ihm angesichts seines Alkoholpegels schwerfällt. Der Mann stellt sich als Aimo vor. Im Laufe von drei Stunden können wir folgende Fakten extrahieren. Er arbeitet als Rohrverleger. Er lebt solo und hasst Karaoke. Aimo sagt von sich selbst, er sei etwas langsam. Er und sein Bruder seien schon oft wegen Körperverletzung verhaftet worden. Sein Englisch beschränkt sich auf „Talk London“ und „Good Friends“.
Darauf stoßen wir an: kippis. Am Nachbartisch beginnt eine Gruppe Jugendlicher eine Rauferei. Vielleicht aber auch ein Kommunikations- und Berührungsversuch, vermutet Juha. Auch Aimo hat mich plötzlich im Schwitzkasten und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Zärtlichkeit auf Finnisch. Im Laufe des Abends holt Aimo ein halbes Dutzend Leute an unseren Tisch, damit wir uns unterhalten. „Talk London“. Dabei treffen wir auch Tomi vom Tonstudio „Pajula Recordings“. Er spielt in einer Band, die sich – vermutlich ironisch – nach unserer Kneipenbekanntschaft „Aimo“ benannt hat und lädt uns ein, ihn im Studio zu besuchen. Im nüchternen Zustand, so sagt er, sei Aimo übrigens praktisch stumm.
Und noch eine Beobachtung zum Thema:
Redselig und expressiv sind meine Schriftsteller- und Künstlerkollegen im normalen Gespräch. Doch sobald sie sich auf der Bühne oder in der Öffentlichkeit äußern, senken sie ihre Stimmen zu einem heiseren, kaum verständlichen Flüstern ab. Klar artikulierte Lesungen oder gar die öffentliche Benutzung von Gestik und Mimik (außer Gesten der Langeweile und Müdigkeit) sind die Ausnahme. Katriina erklärt mir, dass dieses gelangweilt, müde, heisere Gemurmel unter Autoren als „cool“ gelte.
Das gleiche Verhalten findet sich bei finnischen Busfahrern. Eigentlich reden sie ganz normal. Sobald sie aber die Stationen über Mikrofon ansagen müssen, bekommen sie kaum den Mund auf. Die junge und eigentlich agile Busfahrerin im Express-Bus von Turku nach Lahti begann ihre Ansagen mit einem hervorgepressten Gähnen, während sie die letzten Stationen nur noch tonlos flüsterte. Offenbar hatte ich eine ganz „coole“ erwischt. Vielleicht war sie ja im Nebenberuf Schriftstellerin.