Dirk Hülstrunk
Die Mitte ist kein Ort (Auszug) aus: Frankfurter Einladung, Größenwahnverlag, Frankfurt 2019, demnächst Neu-Auflage im MAIN Verlag.
Von der Mitte aus ist die Mitte nicht zu erkennen. Die Mitte der 1970er Jahre fühlte sich nicht an wie die Mitte der 1970er. Eher wie der Rand der 1950er Jahre mit Farbfernsehen und einer Vorliebe für orange-braune Muster. Die Mitte der Pubertät war von mir aus nicht präzise zu bestimmen und lag Mitte bis Ende der 1970er Jahre irgendwo zwischen ausgehenden Lederhosen und den ersten Joints auf der Schultoilette.
Der Ausgangspunkt meiner frühjugendlichen Existenz war eine graue Nachkriegs-Mietskaserne, erbaut auf den Trümmern schmucker Vorkriegsvillen an der Friedberger Anlage. Meine Mutter war mit mir nach ihrer Scheidung hier eingezogen. Außer uns bevölkerten verhärmte Kriegerwitwen, missmutige Frührentner und genervte Versicherungsangestellte die Wohnanlage. Zwei- bis Dreizimmerwohnungen, vollgestopft mit düsteren Schrankwänden, wulstigen Polstergarnituren, Nippes und Tupperwaren. Zeitschriftenwerber, Zeugen Jehovas, Staubsaugervertreter, Avon-Beraterinnen und Spendensammler aller Art klingelten regelmäßig. Der Hausmeister trug stets einen blauen Handwerkerkittel und schnarrte seine Verbote und Drohungen im Stakkato-Sprechstil der 1930er Jahre. Die Keller waren bis unter die Decke mit Konservendosen und anderen Vorräten gefüllt. Man wusste ja nicht, wann der Russe einmarschieren würde.
Vor den Häusern schimmerte ein militärisch kurzer Rasenteppich in mattem Grün. Betreten und Spielen verboten. Exzessive Autoreinigung mit reichlich Chemieschaum war hingegen erlaubt, zumindest auf dem Parkplatz vor dem Rasen. Schließlich sollten alle sehen, wie ernst man sich um Reinigung bemühte. Es hätte überall in Deutschland sein können.
Zufällig lag der Ort aber in der gefühlten Mitte der Bonner Republik. Deren Mittelpunkt lag weder in der randständigen Kleinstadt Bonn noch in der weit nach Osten gerückten, geteilten und ummauerten ehemaligen Hauptstadt Berlin, sondern im brummenden Wirtschaftsmotor des Rhein-Main-Gebietes mit der Bankenmetropole und Dauerbaustelle Frankfurt im Zentrum. Mit der Vergangenheit wollte in Frankfurt niemand mehr zu tun haben. Den eigentlichen Kern hatte man nach den Zerstörungen des Krieges großzügig ausgeschabt, durch nüchtern-funktionale Wohn- und Geschäftshäuser und breite autogerechte Durchgangsstraßen ersetzt. Die modernen Schneisen wurden quer zu den alten Achsen geschlagen. Nur die alten Wallanlagen, die Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Resten der mittelalterlichen Stadtmauer entstanden waren, ließ man unberührt. Der Grundriss der alten Befestigungsanlagen mit ihren eckigen Bastionen umhüllt das entkernte neue Zentrum und ist zumindest aus der Luft und auf Stadtplänen gut zu erkennen. Das grüne Innenhäutchen Frankfurts wird wiederum von dem dreispurigen Anlagenring umklammert, einer beliebten Raserstrecke auf der Rallye „rund um das Zentrum“.
Der Verkehr des Anlagenrings brandete direkt an unserer Mietskaserne an. Den Verkehrsstrom jenseits der Ampeln zu überqueren, war ein Abenteuer. Vor und hinter den rasenden Autos musste ich mich durch die Reihe der parkenden Autos quetschen, dann lossputen und schließlich noch durch ein stacheliges Gebüsch, ohne in einen der Kothaufen zu treten. Erst dann war ich wirklich drin. In der Mitte, die hier wie ein vergessenes Stadtrandgebiet wirkte, ein sumpfiges Gewirr von Wegen und Tümpeln zwischen Rasen und Gebüsch. Lärm und Ausdünstungen des inneren und äußeren Anlagenrings ließen dem Grün wenig Ausdehnungsmöglichkeiten und kaum Luft. Ein paar willkürlich gesetzte Bäume und Büsche, an denen sich Müll, Taschentücher, Hunde- und Menschenkot sammelten. Den Rasen zu betreten war auch hier verboten. Neben den gebeugten Rentnern des nahen Altersheims drückten sich zwielichtige Gestalten auf dem Grünstreifen herum, gerne am oder gar im Gebüsch. Sie tauschten Sex oder Drogen. Die Parkbänke waren von rauschebärtig-verwucherten Obdachlosen oder ausgemergelten Lederjacken-Junkies belegt. Ein Ort für die Ausgestoßenen, für jene, die keinen Ort hatten. Alle anderen beeilten sich, diesen Unort schnellen Schrittes zu durchqueren, um von B nach A zu kommen, von draußen nach drinnen, in die Mitte, zu den schönen guten Waren, aufgestapelt in den Kaufhäusern rund um die nahe Zeil.
Die Atmosphäre im Anlagenring wurde nicht gemütlicher durch den Gedenkstein für einen Selbstmörder, den Bürgermeister Fellner, der sich hier 1866, nach der Machtübernahme der Preußen, erhängt hatte.
Die Wallanlagen waren damals kein schöner Ort, aber sie boten einen großen Aktionsradius für ein Kind, das gerade die Grundschule verlassen hatte. Zum Glück verfügte ich als Schlüsselkind über eine gewisse Autonomie. Meine alleinerziehende Mutter war voll berufstätig und konnte mich nicht beaufsichtigen. Das nutzte ich maximal aus und erklärte großspurig die gesamten Wallanlagen zu meinem Revier. Ich konnte die gesamte nördliche Hälfte der Innenstadt umkreisen, ohne sie zu berühren. Die Innenstadt war eine schemenhafte Idee jenseits der Sträucher. Es ging zunächst um die Bewegung. Dennoch gab es einige Fixpunkte. Der Kiosk an der Kreuzung Friedberger Anlage/ Ostzeil, unmittelbar an der damaligen Straßenbahnhaltestelle war ein schnell und billig errichtetes Büdchen, immerhin groß genug, dass man hinein gehen konnte. Hier konnte ich die begehrten Yps-Hefte mit beigelegtem Gimmik erhalten – Steinschleudern oder Urzeitkrebse zum Beispiel. Abends wurde die ganze Front des Kioskes mit einem Schiebegitter verschlossen. Gegenüber stand ein eigenartiges kleines Jugendstilhäuschen mit auffällig geschwungenem Giebel, aber ohne Fenster. Ein Relik einer verspielten Vergangenheit, das nicht so recht in die nüchterne Nachkriegszeit passen wollte. Bei näherer Betrachtung nur ein streng riechendes Toilettenhäuschen, 1906 erbaut, zu einer Zeit, als erst seit wenigen Jahrzehnten eine Kanalisation gab. Vermutlich wollte man den Frankfurter Bürgern beibringen, nicht an die neu gebauten Gründerzeithäuser zu pinkeln.