aus:
Dirk Hülstrunk: 5-10.4. Landleben in Sysmä

 

Mit dem finnischen Stimm- und Performancekünstler Juha Valkeapää per Bus nach Sysmä, einem kleinen Ort am grossen Päijane See in Mittelfinnland, irgendwo zwischen Lahti und Jyväskylä. In der „Villa Sarkia“, einem kleinen neuen Stipendium der Literaturorganisation „Nuoren Voiman Liitto“, wollen wir ein bilinguales deutsch-finnischen Soundpoetry Projekt erarbeiten. Juha hatte ich nach meinem Auftritt beim LaBas Performance Festival Helsinki 2008 kennen gelernt. Nach spontanen Text/Stimmimprovisationen im letzten Herbst war klar, dass wir ein gemeinsames Projekt machen wollten.

Jetzt rauschen wir also durch einen trüben NebelRegenSchnee-Vorhang in Sysmä ein. Im ersten Moment denke ich, ich bin in einem Holzfällernest im Nordwesten Kanadas gelandet. Verschlammte Strassen, meterhohe Schneeberge, verschlissene Holzhäuser aus vergangenen Zeiten. Die Huskies fehlen, zugegeben. Und die „Matka Baari“ (Die Busbahnhofsbar) präsentiert sich im schlichten sozialistisch-schmutzigen Betongrau. Sie ist bereits am Nachmitttag geschlossen, ebenso wie der Grilli (Imbiss), der hinter einem riesigen Schneeberg kaum zu erkennen ist. Katriina Ranne, unsere Mitstipendiatin treffen wir im Rathaus. Sie übersetzt afrikanische Lyrik. Jetzt führt sie uns zur „Villa Sarkia“, einem typischen gelben Holzhaus, das über zwei grosse und ein kleines Zimmer für Stipendiaten verfügt. War vermutlich vorher mal ein Kindergarten.

Erste Lektion: Müllpolitik. Beim Müll kennen die Finnen offenbar keinen Spass. Schon in Helsinki hatte mir Juha eine ausführliche Anleitung hinterlassen, was ich wohin zu werfen habe. Getrennt wird: brennbar, nicht brennbar, Metall, Papier.

Katriina erklärt es mir noch mal in aller Ruhe. Plastik kommt in den „brennbar“-Behälter, Lebensmittelreste sind „Restmüll/nicht brennbar“. Bestimmte Plastikformen gehören aber auch in den Restmüll. Wo ist der Biomüll? will ich wissen, aber Katriina ist schon wieder in ihr Zimmer gehuscht, Juha skypt mit Kopfhörern.

Am nächsten Morgen schaut mich Katriina streng an. „Ich hatte dir doch erklärt, dass DIESE Plastikverpackung in den Restmüll gehört“. Sie hält mir das Delikt vor die Nase und versenkt es demonstrativ bei den Apfel- und Kartoffelschalen.

S-Markt, K-Markt, Siwa-Markt, drei mal Second-Hand Trödel (einer geschlossen), drei bis vier Bars (nur tagsüber geöffnet), drei Cafes, ein Fastfood-Imbiss (geschlossen), Akkordeonmuseum (geschlossen), Heimatmuseum (geschlossen), mittelalterliche Kirche (geschlossen). Sysmä im April präsentiert sich weitgehend geschlossen. Geöffnet wird zwischen Juni und August, wenn die Sommergäste kommen. Ausnahmsweise geöffnet ist die beeindruckend umfassende Buchhandlung in einem alten Holzhaus im Zentrum von Sysmä, die von Comics der 1940er Jahre über Second Hand Science Fiction bis zu aktuellen Kunstkatalogen alles bietet, allerdings nur in Finnisch. Auf der Strasse vereinzelt scheue ältere Menschen mit einem Mittelding aus Rollator und Tretroller. Abgesehen von ein paar wenigen modernen Zweckbauten im Zentrum fast nur traditionelle Holzhäuser, Landwirtschaft. Hauptattraktionen sind das Sysmä Roggenbrot, ein kreisrundes, flaches Brot mit einem Loch in der Mitte und das selbstgebraute Bier „Sahti“, in den Läden bekommt man nur die Zutaten. Brauen muss man selbst. Sahti zu bekommen, ist also nicht ganz einfach. Auf unsere ersten Nachfragen werden wir vage vertröstet („Ich frag mal einen Nachbarn“)

Wem Bierbrauen zur aufwändig und Brotbacken zu langweilig ist kann sich (laut Lokalzeitung) auch mit folgenden interessanten Dingen beschäftigen:

„Ampumaurheile“ (Shooting), „Paini“ (Wrestling), „Saappaaheitto“ (Gummistiefelweitwurf) und das mysteriöse „Pysäkkikäveli“, das mir Juha mit „Stop Walking“ übersetzt und dass sich an die „ältere“ Generation richtet.  Der Gummistiefelweitwurf ist hingegen eine ernste Sache, wie ich bald herausfinde. In Jokela steht zur Zeit der „Spring Cup of Southern Finland“ an und die „International Boot Throwers Association“ (http://bootthrowing.com) bereitet sich auf die Weltmeisterschaften vor.  Frauen müssen Stiefel der Grösse 37 von 0,7Kg Gewicht verwenden, Männer Stiefel der Grösse 43 mit ca. 1kg Gewicht. Schnüre müssen entfernt werden. Es ist verboten, Substanzen auf die Hand zu schmieren, die am Stiefel kleben bleiben könnten.

Leider komme ich weder zum „Stop Walking“ noch zum „Gummistiefelweitwurf“. Juha und ich haben das lokale Theater – eine hübsches altes Holzgebäude aus dem 19JH – als Probebühne bekommen.  Bis zu 6 Stunden täglich proben wir. Es flutscht. Wir improvisieren, spielen, arrangieren, bauen Texte um, übersetzen und entwerfen neue Stücke. Juha ist ein guter Vokalist. Muss mich sehr anstrengen mitzuhalten. Insbesondere nach einem Monat heftiger Grippe. Abends Textarbeit & Orga, Kochen, Sauna. Vor 2-3 Uhr komme ich nicht ins Bett. Morgens um 9 Uhr wieder raus. In einer Woche haben wir aus dem Nichts ein fast komplettes Performanceprogramm gestanzt. Marko Niemi, der Redakteur des Online Magazins „Nokturno“ hat uns am kommenden Wochenende eingeladen, beim „Nokturno Runoklubi“ in Jyväskylä unser Programm vorzustellen.

 

 

 

 

 

 

 

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