Zeitmaschinen und Maschinenvögel  – Die seltsame Welt des Dr. Evermor

Im Oktober 2011 lebe und arbeite ich mit einem Literaturstipendium für zwei Monate in Madison, Wisconsin. Madison ist eine quirlige Kleinstadt im Mittleren Westen der USA, nördlich von Chicago, eine beliebte Universitätsstadt mit Fußgängerzone, zahlreichen Radfahrern, Tofu & einer unglaublichen Auswahl an hervorragenden Bieren. Straßenmusiker und regelmäßige Demonstrationen beleben das Stadtbild.

Bei einem meiner ersten Streifzüge fallen mir zwei gigantische Vogelskulpturen aus Schrott auf. Vor einem Fabrikgebäude an der Paterson Street ragen sie haushoch in den Himmel, fragil und mächtig zugleich.
Auf der Fussplatte lese ich: „Dreamkeepers“, Eond & Yond, Dr. Evermor, England.

Ich erfahre, dass Dr. Evermor das Pseudonym des legendären Outsider Künstler Tom Every ist. Er hat nicht nur lustige Vögel aus Schrott gebaut sondern gilt als Erschaffer der größten Schrottskulptur der Welt, dem „Forevertron“ – einer „Zeitmaschine.

In den nächsten Tagen entdecke ich in Madison immer mehr ähnliche Vogelskulpturen, die – obwohl deutlich kleiner – eindeutig Dr. Evermors Handschrift tragen. Sie stehen in Vorgärten oder an Kreuzungen. Im Naturschutzgebiet „Goose Pond“ bei Arlington, wenige Kilomenter vor Madison, stehte eine ganze Schrott-Vogelherde majestätisch im hohen Prairiegras. Jede Skulptur ca. 2-3 Meter hoch.

Wer ist dieser Dr. Evermor? Lebt er noch? Gibt es jemand, der ihn kennt? Ich höre einige Gerüchte. Evermor gilt als Sonderling, als grantiger alter Mann, mit dem es schwierig auszukommen sei. Schließlich bekomme ich die Telefonnummer seiner Ex-Frau Eleonore. Ich erfahre von ihr, dass Dr. Evermor nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist. Er ist in einem Pflegeheim in Sauk City untergebracht und fährt nur noch selten in seinen Skulpturengarten in Baraboo.

Dr. Evermor, eigentlich Tom Every, Jahrgang 1938, stammt aus einer alten englischen Familie. Einer seiner Vorfahren soll der berüchtigte Pirat Henry Every (1659-1696) gewesen sein

Dr. Evermor ist ein englischer Wissenschaftler und Erfinder des viktorianischen Zeitalters.

Schon der kleine Evermor war von der Kraft elektrischer Blitze begeistert, die, wie sein Vater erklärte „von Gott“ stammen. Von da an, war Evermor besessen von dem Gedanken, eine Maschine zu bauen, die ihn mit Hilfe von Blitzen in himmlische Sphären und damit direkt zu Gott katapultieren könnte.

Nach langer Experimentier und Bauphase wird 1899 das „Forevertron“ der viktorianischen Öffentlichkeit präsentiert.  Queen Viktoria und der Prince of Wales haben im königlichen Aussichtspavillion Platz genommen. Ein Bataillon mechanischer Vögel spielt Marschmusik. Dr. Evermor steigt zunächst in das Gravitron, das ihn auf körperliche Defekte scannt und sein Gewicht reduziert. Danach erklimmt er die Spiraltreppe, überprüft die Wetterbedingungen und erklärt sich startbereit. Über eine Brücke gelangt er an der Spitze der Installation in den Glasball mit dem Kupfer Ei im Inneren. Sein Helfer, Dr. Cjertsen steht am Kontrollturm und schaltet die Kosmischen Ohren ein, berechnet die Koordinaten und kalibriert den magnetischen Steuerkreisel, um die Flugbahn einzugeben.

Der Dr. klettert in die Reisekammer, dreht sich noch einmal zur Menge und ruft, „Auf in den Himmel“.

Tom Every war lange Jahre Abbruchunternehmer, u.a. damit beschäftigt, die alte Industrie Wisconsins zu demontieren. Mit 45 beginnt Tom Every ein neues Leben. Er verkauft seine Abbruchfirma. Alles Material, das sich noch angesammelt hat,  bringt er auf das Grundstück des befreundeten Schrotthändlers Delaney, am Highway 12, 50 Kilometer nördlich von Madison, gegenüber der Badger Munitionsfabrik. 1983 beginnt Every mit nur wenigen Helfern an einem scheinbar völlig irren Projekt zu arbeiten, das nicht nur kein Geld einbringt sondern im Gegenteil Unsummen verschlingen wird. Obwohl weiter im Altmaterialhandel tätig, wirft er jetzt alle Energie auf die Realisierung des selbstgeschaffenen Mythos vom.„Forevertron“. Dafür hat er ungewöhnliche und teilweise historisch wertvolle Industrierelikte der letzten 150 Jahre angesammelt. Ausser groben Skizzen gibt es keinen Konstruktionsplan oder gar Modelle bzw. Tom Every hat alles im Kopf.

Die Maschine ruht auf Tiefladern aus dem NASA Raumfahrtprogramm. Aus diesem Programm stammen auch eine Dekontaminationskammer für Astronauten und zwei Druckbehälter. Zu den zentralen Elementen gehören auch 4wei riesige Transformatoren aus einem Elektrizitätswerk, jeder gut 3000 Kilo schwer. Auf einem fragil scheinenden Gerüst fast schwebend montiert, dienen sie nun die als Antriebsstrahler für die Reisekammer. Aus dem lokalen Elektrizitätswerk für die Munitionsfabrik stammen gigantische Batteriezellen, die die ganze Maschine mit Strom versorgen.

Um überschüssige Energie aufzufangen sind mehrere Faradaysche Käfige um das Forevertron positioniert. Mit rotierenden Metallarmen nehmen diese die überschüssige Energie auf und machen sie unschädlich.

Das zentrale Element ist die „Reisekammer“ eine Glaskugel von 1,50m Umfang, die einmal als Reklameplanet für das „Mars Hamburger Restaurant“ gedient hat.

Die auf die Reisekammer gerichteten 4 Transformatoren sollen einen elektrischen Blitzstrahl erzeugen, der die Reisekammer gen Himmel schickt.

Über ein grosses Steuerbord mit zahlreichen Regler und Skalen und dem „Magnetischen Steuer Kreisel“ wird die ganze Maschine bedient.

Das Forevertron ist 20 Meter hoch, 33 Meter lang und 22 Meter breit und wiegt 300 Tonnen. Viele der elektrischen Komponenten sind betriebsbereit und theoretisch kann die ganze Maschine gestartet werden.

1999 wurde es vom Guiness Buch der Rekorde zum grössten Schrottkunstwerk der Welt erklärt.

Neben seiner mythischen und esoterischen Funktion als Zeitmaschine des Dr. Evermor stellen das Forevertron und die anderen Skulpturen Everys ein offenes Museum der Industriekultur dar. Every berichtet, dass ihm die Demontage der stolzen Maschinen des Industriezeitalters oft geschmerzt habe. Er wollte die Bestandteile erhalten und einem neuen Zweck zuführen. Der Respekt vor dem Material führt dazu, dass Every die Formen des  Original Material so wenig wie möglich verändert, sondern die Teile vorwiegend neu verbindet und arrangiert und ihnen natürlich einen neuen Zweck zuweist, einen Platz in seiner privaten Mythologie. Dabei verbindet er gerne Objekte aus ganz unterschiedlichen Zeitepochen. Er bezeichnet das als historic integrity

Tom Every als Outsider Künstler

Den strengen Kriterien des Jean Dubuffet für Art Brut würde Every sicher nicht entsprechen. Every kommt zumindest in späten Jahren immer mal wieder in Kontakt mit dem Kunstmarkt und zur (akademischen) Kunstszene, ist am Austausch und Gespräch mit anderen Künstlern interessiert. Seine kleineren Skulpturen, vor allem die Vögel sind mittlerweile sehr begehrt und teuer zu erwerben. Vor einigen Jahren ist eine Biographie von ihm erschienen, die in enger Zusammenarbeit mit ihm entstanden ist.

Doch im Kern entspricht er sehr gut einem erweiterten Outsider Begriff.

Als Schulabbrecher und Abbruchunternehmer hat er zunächst den denkbar grössten Abstand zum Kunstmarkt und zur Kunstszene. Er ist handwerklich geschickt und ein smarter Geschäftsmann. Dazu verfügt über eine reiche Phantasie, lebt aber in einer ganz und gar unintellektuellen Welt reiner körperlicher Arbeit. Dabei ist er von Anfang an ein ebenso dynamischer wie kauziger Typ, einer, der keine von aussen auferlegten Grenzen und Gesetze akzeptieren will. Das bringt ihn früh und oft in Konflikt mit der Gesellschaft und dem Gesetz.

Erst eine tiefe persönliche Krise hat seinen Phantasiewelten und damit dem Künstler, dem Erschaffer in ihm eine Sprache gegeben und ihn noch tiefer in eine (auch) gesellschaftlichen Aussenseiterrolle gedrängt.  Sein Hauptwerk, das „Forevertron“ ist gänzlich aus innerer Notwendigkeit entstanden, ohne kommerzielle Motive. Im Gegenteil. Als Abbruchunternehmer und Schrotthändler hat Every viel Geld gemacht. Alles hat er in den Bau seines Werkes investiert, so dass er jetzt, alt und schwer krank von der Sozialhilfe leben muss.

Es gab  ein verlockendes Kaufangebot für das gesamte Forevertron Ensemble durch die „Kohler Stiftung“, die sich der Konservierung von Stätten der Aussenseiterkunst verschrieben hat. Doch Every hat sich verweigert, weil ihm der Prozess zu bürokratisch war und er Anwälte und smarte Anzugtypen nicht ausstehen kann.

n den 35 Jahren seines Schaffens gab es eine einzige grössere Ausstellung, vorwiegend seiner Vogelskulpturen. Im Gegensatz zum „House on the Rocks“, das als Touristenattraktion perfekt kommerziell durchgestylt wurde, inklusive Hotel, Restaurant, Wellnessbereich, grossen Parkplätzen und teuerer Eintrittsgebühr, liegt das Forevertrons noch immer von der Strasse nicht einsehbar, hinter dem Delaney Schrottplatz. Wer es findet, kann es gratis betreten und sich umschauen. Es gibt keine Bushaltestelle, keine Werbung, keinen Zaun, keine Tickets, keine Toiletten, kein Cafe, keinen Souvenirshop, nicht einmal einen überdachten Bereich. Der Höhepunkt eines Besuches besteht darin, den Meister vor Ort zu treffen.

 

Ob Every psychisch krank ist, wie nahe seine Mythologie und krude Welterklärung an eine echte wahnhafte Psychose kommt, ist schwer zu sagen. Every hat die Grenzen zwischen Realität und Fantasie immer wieder verwischt. Er hat sich immer tiefer in seinen selbstgesponnenen Mythos hineinbewegt und ist fast vollständig mit der Fantasiefigur des Dr Evermor verschmolzen. Und doch ist da immer noch dieses Augenzwinkern, dieses Gefühl, da hat jemand Spaß daran, andere  zu verwirren und an der Nase herumzuführen.

 

 

 

 

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