Ahoi Prag – Blog für „Prag Aktuell“

SAMSUNG CSCErstveröffentlichung in: Prag Aktuell, 13.11.15
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45 Minuten. Die Dauer einer LP, eines Frühstücks, einer Stadtdurchquerung oder eines Fluges von Frankfurt nach Prag.
Die Fahrt vom Vaclav-Havel-Flughafen ins Zentrum dauert mit Bus, Metro und Straßenbahn länger als der Flug. Bis 2012 hieß der Flughafen Ruzyne, ebenso wie das nahe Gefängnis, in dem der bekannte Dissident und Dichter-Präsident Vaclav Havel zeitweise inhaftiert war. Zwischen seiner letzten Haftentlassung und seiner Wahl zum Präsidenten im Dezember 1989 lagen nur wenige Monate. Heute geben sich die Justizbehörden erstaunlich serviceorientiert und gewährend auf ihrer Homepage stolz Einblicke in Geschichte, Kapazität, Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten des größten Prager Gefängnisses. Fast möchte man dort eine Kur verbringen. Über den berühmten Gefangenen Vaclav Havel erfährt man leider nichts. Weibliche Gefangene werden im nahen Kloster bei den karitativen Schwestern des St. Boromäus Ordens untergebracht. Das Kloster wird auch als Altersheim genutzt. http://www.vscr.cz/vazebni-veznice-praha-ruzyne-90/information-in-english-1464/aj.

Inhaftiert werden in Tschechien auch Flüchtlinge. Präsident Zeman bezeichnet Flüchtlinge als „Verbrecher“ und spricht von einer „organisierten Invasion“. Mindestens 40 Tage können sie in geschlossenen Lagern festgehalten werden. Sie bekommen dort Mobiltelefone und Geld abgenommen. Kein Land in Europa geht so rigide gegen Flüchtlinge vor. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte spricht von systematischen Verletzungen der Menschenrechte. Am Tag vor meiner Ankunft demonstrierte die völkisch-rassistische „Pegida“-Bewegung mit Lutz Bachmann in Prag. Ich erfahre, dass die Unterstützer der Flüchtlinge hier ironisch „Sonnenscheinchen“ genannt werden. Ist das die tschechische Variante zum deutschen „Gutmenschen“?

Immer wieder wird mir klar, wie privilegiert ich durch meine zufällige Geburt in Deutschland, meinen deutschen Pass und meine Hautfarbe ich bin. Ich kann mich frei in der Welt bewegen. Ich kann sagen und schreiben, was ich möchte. Ich habe bisher weder Hunger, noch Krieg und Vertreibung, noch Zensur erlebt. Ich bin hier als eingeladener Gastkünstler. Meine Unterbringung kein Gefängnis und kein Internierungslager sondern das noble Jugendstil-Haus der Vereinigung tschechischer Chöre. Blick auf die Moldau und den Petrin Hügel. Kaum habe ich den Koffer abgestellt, werden irgendwo fleißig Tonleitern auf- und ab geklettert. Wenn ich das Fenster öffne, reichern das langgezogene Geheul amerikanischer Ambulanz- oder Polizei-Sirenen und das Rattern der unermüdlichen Prager Straßenbahnen die Stimmübungen an. Leichter Nebel verklärt alles. Die Häuser der Kleinseite und die Burg sind nur schemenhaft zu erkennen. Über die Moldau gleiten geräuschlos Schwanentretbote. Der Minimarkt im Erdgeschoss bietet eine reiche Auswahl an Absinth an. Um die Ecke bietet ein Militariageschäft Pickelhauben an. In welchem Jahrhundert befinde ich mich?

 

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