Dirk Hülstrunk
„ITE – von der Kunst des „selbst gemachten Lebens – Outsider Art in Finnland“
in: ZS „MyWay – Magazin für Kulturellen Eigensinn“ Ausgabe 65, 2/2010
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Das Paradies, ein Zustand unschuldiger Ursprünglichkeit, ein Leben ohne Entfremdung, in dem wir unsere Träume und Phantasien verwirklichen und ausleben können – wer sehnt sich nicht danach?
Als der finnische Fotograf Veli Granö Mitte der 1980er Jahre zu einer ausgedehnten Recherchetour über finnische Volkskunst aufbricht, macht er eine unerwartete Entdeckung. In vielen entlegenen Dörfern, in einsamen Gehöften mitten im Wald, findet er ungewöhnliche Menschen, denen es zu gelingen scheint, ihr Leben mit ihren Wünschen und Sehnsüchten weitgehend in Übereinstimmung bringen, die aus ihrer Selbstbestimmtheit und Eigenheit ein Glück beziehen, das in der technisierten und vernetzten westlichen Zivilisation selten geworden ist. Aufgefallen sind sie Granö durch ihre Tendenz, das Leben nicht nur praktisch sondern auch kreativ und künstlerisch selbst zu gestalten.
In Hinterhöfen, Scheunen, Gärten, im Wald, auf Feldern und Wiesen, in verlassenen Bahnhöfen oder ehemaligen Kuhställen schrauben, hämmern, schweissen, schnitzen, malen, collagieren einfache Menschen vom Land ohne jegliche künstlerische Vorbildung mit ungeheurer Energie und Fantasie kreative Objekte aus Holz, Abfall und Schrott und anderen Alltagsmaterialien. Sie verwenden, was ihre unmittelbare Umgebung hergibt: weggeworfene, nutzlos gewordene Dinge und natürlich die Natur.
Mit klassischer Volkskunst oder Kunsthandwerk hat das wenig gemein – zu individuell, zu wenig traditionellen Mustern und Formen verhaftet, zu sinn- und zweckfrei. Ebenso wenig ist es als Hobbykunst oder Sonntagsmalerei zu begreifen: zu eigenwillig, zu extrem, zu besessen. Diese Kunst ist ebenso modern wie primitiv. Ihre Schöpfer sind Arbeiter, Handwerker, Bauern, Fischer, Arbeitslose, Rentner, aber auch Sonderlinge, Aussenseiter, Aussteiger oder die klassischen „village idiots“. Genügend Raum, Zeit und Abgeschiedenheit vorausgesetzt, lassen sie die Phantasie ins Kraut schiessen. Mit einfachen handwerklichen Mitteln entstehen phantastische, vielseitige, hochoriginelle Werke: Skulpturengärten, Environments, Phantasiearchitekturen, Assemblagen und Collagen aus allen denkbaren Materialien, absurde Erfindungen, eigene Zeichenwelten, politische Statements, Performances oder gar skurrile Erfindungen.
Veli Granö empfand diese Reise zu den „Backyard Artists“ als „Reise ins Paradies“ und so betitelte er auch 1989 seinen viel beachteten Fotoband „Onela – A trip to paradise“.
Der mit Granö befreundete Video- und Fluxuskünstler Erkki Pirtola hat in den vergangenen 20 Jahren weit über 100 dieser Künstler dokumentiert und zahlreiche Ausstellungen kuratiert. Pirtola sieht in dem Phänomen der ländlichen „Backyard Artists“ etwas grundsätzlich Neues, eine eigene Kunstform, die sich sowohl von Volkskunst wie von akademischer Kunst unterscheide. Er betont die Vielfalt, den grossen Humor, die absolute Freiheit von stilistischen Vorgaben, Motiven, Moden und sieht eine Mischung zwischen primitiv-magischer, schamanistischer Stammeskunst (ohne Stamm) und individualistisch moderner Weltwahrnehmung und Recyclingästhetik.
Das Kürzel „ITE“ für „Itse Thety Elämä“ (selbst gemachtes Leben) wurde wohl in den späten 1990er Jahren von Raija Kallioinen geprägt, die mit der staatlichen Organisation „Union for Rural Culture and Education“ die Suche nach „ITE Künstlern“ professionalisiert hat. Die Organisation, die sich für die kulturelle Entwicklung des ländlichen Raums einsetzt, hat mittlerweile über 300 dieser Künstler gefunden.
ITE Kunst, die Kunst des „selbst gemachten Lebens“ ist heute ein feststehender Begriff für „Outsider Art“ in Finnland geworden, also für Menschen, die als Autodidakten abseits des akademischen Kunstbetriebes Kunst produzieren, unabhängig von dessen Moden, Stilen und Zwängen, Menschen, die oft auch soziale Aussenseiter sind und räumlich fern von den kulturellen Zentren leben.
Kunst von Aussenseitern gibt es überall auf der Welt. Doch insbesondere in Europa wird mit „Art Brut“ und „Outsider Art“ häufig die Kunst psychisch Kranker oder geistig Behinderter in Verbindung gebracht, Kunst, die überwiegend in Institutionen entsteht und von Ärzten und Betreuern gesammelt und vermarktet wird.
Die finnische ITE Kunst erscheint dagegen als Kunst der maximalen Freiheit, die ausserhalb von Institutionen und institutionellen Zwänge entsteht. Auch die hohe Zahl der finnischen „Outsider Artists“ ist für Europa ungewöhnlich.
Die Möglichkeit, das eigene Leben weitgehend autonom selbst gestalten zu können, scheint die Glücksformel schlechthin zu sein. Der Blick auf die ITE Künstler, die sich diese Freiheit selbstverständlich nehmen, macht deutlich, wie sehr unsere westliche Zivilisation trotz allem Gerede über die Freiheit des Individuums, diese letztlich immer weiter einschränkt.
Einige ITE Künstler sollen hier stellvertretend vorgestellt werden:
Elis Sinistö war vor dem Krieg Ballett-Tänzer an der Nationaloper in Helsinki. Nach dem Krieg zog er sich auf ein ausgedehntes Waldstück bei Kirkonummi zurück und lebte dort über 50 Jahre fern der Annehmlichkeiten der Zivilisation, bis er 2004 im Alter von 92 verstarb. Im Laufe der Jahrzehnte schuf er völlig alleine eine komplexe Phantasiearchitektur aus Schrott und Müll, ein komplexes Environment, in dem er ohne fliessend Wasser und Strom bis ins hohe Alter völlig autark lebte. In einem kleinen selbst gemauerten Theater tanzte er nackt zur Musik aus einem batteriebetriebenen Kassettenrekorder – das einzige Zugeständnis an die Zivilisation. Für die Angehörigen war er geisteskrank. Für andere war er der Zen-Meister des Waldes, ein drahtiger, spielerischer, lebenslustiger und äusserst humorvoller Greis, der bis zum Ende für sich selbst sorgen konnte. Wer ihn in seinem selbst gebauten Paradies besuchte, hatte das Gefühl, das Elis tatsächlich die höchste Stufe von Selbstverwirklichung und Glück erreicht hatte. Warum hätte man ihn behandeln oder gar einsperren sollen?
Video about Elis Sinistö by Erkki Pirtola
Der arbeitslose Schreiner und Gärtner Vesa Väänänen war dabei in Alkohol und Depressionen zu versinken, als es ihm schliesslich gelang, sich auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs von Heinola als ITE Künstler neu zu erfinden. Weit über 100 Skulpturen aus Metallschrott und anderem Material hat er auf dem Gelände verstreut, riesige Metallinsekten und ein stählernes Spinnennetz kleben an den Gebäuden. Seine Werke sind vielschichtig, subtil und voller Anspielungen. Das Böse und die Dummheit sind wiederkehrende Themen. Hinterliste Monster, gemeine Teufel, Figuren mit Scheisse im Gehirn oder Gliedmassen aus senfbestrichenen Metallwürsten bevölkern seine meist traumhafte, manchmal alptraumhaft abgründige Welt. Vesa ist ein Meister des Surrealen, der den Grossen des Genres problemlos das Wasser reichen kann. Vesa ist stolz darauf, ein ITE-Künstler zu sein, einer, der das Leben selbst gestaltet. Die Gemeinde Heinola wirbt bereits mit seinem Skulpturengarten.
Tixa hat die Kunst der Collage seit frühester Kindheit perfektioniert. Aufgewachsen im Hause eines freikirchlichen Predigers, dessen Gemeinde mitunter am heimischen Küchentisch in Trance fiel und in „Zungen“ redete, entwickelte Tixa schon in der Kindheit ein obsessives Interesse für das Maya-Mythos “Popol Vuh“, das für ihn die Geschichte seiner Kindheit erzählt. Hunderte von illustrierenden Collagen hat er dazu geschaffen. Ein Buch zum Buch, in dem sich Maya-Ästhetik mit Science Fiction und anderen Elementen mischt. Häufig beinhalten seine Bilder Fragmente von Zeichen, Werbung, Texten, Neologismen oder Wortspiele. Als Material benutzt er Papier, Pappe, Holz und andere Materialien, die er auf der Strasse findet. Als Aussenseiter-DJ tourt er mit einem alten 1960er Jahre Monoplattenspieler mit Boxen im Deckel durch Clubs und Bars. Mit Federn und Froschskulptur wirkt sein Set-up wie ein trashiger Altar. Dort zelebriert er Rockn Roll, Klassik, Tango, Country, spricht dazu in Zungen, summt oder singt. Er bezeichnet sich als „Feeling Dealer“, der mittels Gehirnwellen, Entspanntheit und gute Gefühle vermitteln könne. In seinem Heimatdorf galt er lange als Dorftrottel, als spinnerter Aussenseiter. Jetzt, als anerkannter ITE-Künstler respektiert man ihn.
Ritva Nurmi hat den kommunalen Kuhstall von Mikkeli mit ihrer überbordenden Schaffenskraft und unerschöpflichen Phantasie bis an den Rand gefüllt. Ihre Spezialität sind Objekte und Figuren aus Haushaltsabfall. Nichts ist zu klein, zu belanglos oder zu kaputt, als das es nicht verwendet werden könnte. Aus defekten Haartrocknern, Plastikflaschen, Knöpfen, Rucksäcken, Matrazenfedern und sogar alten Putzlappen schafft Nurmi ein phantastisches Universum hybrider Gestalten, die häufig an Ausserirdische erinnern und in ihrer absurden Zusammensetzung mitunter extrem komisch sind. Auch Naturmaterialien verschmäht sie nicht. Sie bemalt Steine und Wurzelwerk oder beklebt eine Klobürste mit Vogelfedern. Nurmi hat durchaus einen Bezug zur Volkskunst, stellt traditionelle Strickbilder und Birkenrindenmaleri her. Doch der überwiegende Teil ihrer Schöpfung ist absolut frei ihrer Phantasie entsprungen. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ist ihr Kuhstallmuseum geöffnet, und unentgeltlich zu besichtigen. Mitunter fordert Ritva die Besucher auf, sich etwas mitzunehmen, um Platz für neue Werke zu schaffen.
Der berühmteste ITE Künstler ist wahrscheinlich der im Frühjahr 2010 verstorbene Veijo Rönkkönen aus Karelien. Sein ganzes Leben hatte er in dem winzigen Ort Parikkala an der finnisch-russischen Grenze verbracht und in einer Papierfabrik gearbeitet. Seit seiner Jugend schuf er im Garten des Elternhauses ein Panoptikum aus hunderten ausdrucksstarker lebensgrosser Figuren aus Beton, darunter dämonische Nachtgestalten, ebenso wie zahlreiche Figuren in Yogapositionen, Gruppen von alten Griechen, Afrikanern, Kindern – eine komplette Welt, die er sich nach Hause holte und die ihm das Reisen in die Ferne ersetzte. Rönkkönens schuf die Skulpturen vor allem für sich selbst und wehrte sich gegen Kommerzialisierungsversuche. Der Garten ist frei zugänglich. Er verkaufte nichts, gab keine Figuren zu Ausstellungszwecken weg. Einen Kunstpreis hat er abgelehnt.
Flickr-Seite über Rönkkönens Skulpturengarten