Blog 23.5.2016 – 10-16 Uhr

Schreibtisch, Topfpflanze, Stifte, Stempel sind platziert. Seltsam tropfende Worte mit weichen Konsonanten und vielen Umlauten warten auf ihren Einsatz als Ersatz. Aus dem Rechner verkündet der finnische Computeravatar Mikko mit schwerem Akzent die schönsten „deutschen Worte“.

Noch bevor das Projekt offiziell eröffnet wird, drängen sich schon die Ersten darum, überflüssige Worte abzugeben. Pressekonferenz und Büroarbeit läuft simultan. Morgen Artikel in FNP/Höchster Kreisblatt. Der erste Besucher möchte „Herzchen“ aus seinem Wortschatz streichen. Schreckliches Wort meint er. Sein Mentor nennt ihn immer so, wenn er ihn tadelt. Und gleich geht es weiter: „elementar“ muss dran glauben. Das klingt so übertrieben. Ein Flüchtling auf dem Weg zum Sprachkurs möchte das grade gelernte Wort „Frühstück“ aus seinem Wortschatz streichen. Vielleicht klingt es in seinen Ohren mehr nach Massaker als nach einer Mahlzeit, vielleicht findet er Frühstück an sich überflüssig. Vielleicht hat ihm das Wort zuviel „ü´s. Überflüssig ist eine sehr individuelle Angelegenheit. Nur „Digga“ taucht doppelt auf. Doppelt überflüssig halt. Überflüssige Worte werden persönlich signiert und gestempelt. Wer sie abgegeben hat verspricht in Zukunft auf sie verzichten und das Ersatzwort benutzen, dass ich im Austausch abgebe.

Die Stunde Pause, die ich mir vorgenommen hatte, ist völlig illusorisch. Ich habe Mühe auch nur 15 Minuten Freiraum zu erkämpfen, um mein Pausenbrot und meine mitgebrachte Banane zu verzehren. Ich bin am Stempeln, Erklären, Diskutieren, suche nach Ersatzworten. Am Ende des ersten Tages sind alle mitgebrachten Wortkarten und Ersatzworte aufgebraucht. Noch beim Abbauen meines improvisierten Büros erscheint ein extrem gestresste Dame und ist überglücklich, dass ich ihr noch das Wort „chillmamama“ abnehme, mit dem sie ihr Sohn malträtiere….Sie ist so froh, dass ich mich nicht traue zu sagen, dass dieses Wort zwar jetzt aus ihrem Wortschatz entfernt wurde, aber nicht notwendiger Weise aus dem ihres Sohnes.

Blog 24.5.2016, 13-18 Uhr

Die halbe Nacht Ersatzwörter gesucht, geschrieben und gestempelt. Die meisten Besucher heute im besten Pubertätsalter oder auch mal darunter. Dazwischen vereinzelt gestresste Lehrer oder verwirrte Sprachschüler. Für die Kids ist das ein lustiges Spiel. „Voll coll ey“. Lehrer nehmen die Sprache berufsbedingt ernster und möchten vor allem bildungsbürokratische Sprachmonster loswerden, die offenbar auf der Seele lasten.  Beide scheinen in völlig unterschiedlichen Sprachuniversen zu leben. Einerseits: Niveaukonkretisierung und Bildungskompetenz, Zeitfenster, Binnendifferenzierung und Schülermaterial, andererseits: „Digga“, „chill ma“, „Opfer“, „Hurensohn“. Aber auch „Herzchen“ und „Schatzi“, „Zahnspangen“ und „Köter“ werden entsorgt.

Dazu interessante Sprachschöpfungen wie „moi chocken“. Klingt wie eine Abart von „Mal checken“. Vielleicht aber auch eine vom Werbefernsehen inspirierte Ableitung der Marke „Moi chocolat“.

Mehrfach wird „Awalee“ abgegeben. Die Mädels, die das Wort loswerden wollen, behaupten aber, es sei ein erfundenes Wort, das anstelle eines Schimpfwortes gebraucht wird. Beim online check finde ich eine französische „Awalee-Consulting“ Firma, ein Video der „Bandoleros“, die trotz des spanischen Namen ziemlich orientalisch klingen.  Ein Online Lexikon verortet den Begriff im „Urdu“ und übersetzt ihn mit „Vorbereitung“. Eine Islaminfoseite weist auf die Herkunft im Koran hin. Hier würde der Begriff „früher“ oder „von früher“ bedeuten. Eine Heavy Metal Band aus Singapur hat ihr letztes Album „Asateerul Awaleen“ genannt und auch gleich die englische Übersetzung „impiety“, also „Pietätlosigkeit“ mitgeliefert.

Ein Lehrer beklagt sich, dass die Deutsche Sprache an Boden verliere. Ich wundere mich trotzdem, dass die entsorgten Begriffe mit wenigen Ausnahmen deutsche Wörter sind. Die gefürchteten Anglizismen tauchen kaum auf. Die Begriffe der aktuellen gesellschaftlichen Debatten (z.B. Thema Flüchtlinge) bleiben ebenfalls aus.

Blog 30.5.2016, 11-16 Uhr

Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Muss man davon ausgehen, dass wir auch zu viele Worte haben, die zu viele überflüssige Dinge bezeichnen? Je mehr Dinge wir besitzen, desto schwieriger ist das Abgeben. Vielleicht kann man das zehn Jahre alte T-Shirt ja noch als Putzlappen gebrauchen. Vielleicht kann man das Tonbandgerät des Grossvaters noch reparieren. Und all die neuen und fast neuen Dinge. Stabmixer, Handys, Espressomaschine, iPad, 3-D-Drucker. Und wie ist das mit Bologna-Reform und Bachelor? Da hat man soviel investiert, das kann man doch nicht einfach wegwerfen. Das wäre doch nicht „nachhaltig“ (eines meiner Lieblingsunwörter).

Je jünger die Besucher, je kleiner ihr Wortschatz, desto leichtfertiger geben sie ihre Worte her. Worte kosten nichts, sollte man meinen und es heißt, man soll Worte NICHT auf die Goldwaage legen. Doch jedes Wort musste gelernt werden. Das erzeugt Bindungen und Besitzansprüche. Manche behaupten, ihnen falle gar kein überflüssiges Wort ein, andere sagen, sie bräuchten ALLE Worte – ja, auch die BÖSEN. Man kann nie wissen, wann man sie gebrauchen kann.

Heute kommen viele Sprachschüler. Eine Italienerin möchte „Unmenschlichkeit“ loswerden. Klingt wirklich schrecklich. Schwer auszusprechen und schwer zu schreiben.

Zwei Äthiopier entscheiden sich nach längerer Diskussion für das Wort „Entschuldigung“. Ein großes, schweres Wort….ein Wort wie heftiger Seegang mit dunklen Gewitterwolken. Da wird einem finster um´s Gemüt. Außerdem hören wir immer wieder – man soll sich nicht entschuldigen, sondern zu dem stehen, was man tut und sagt. Entschuldigung ist ein Synonym für mangelndes Selbstvertrauen. Wenn es leichter von den Lippen gehen würde, würden wir es vielleicht häufiger einsetzen, aber so…..

Eine Französin möchte nicht vor „Achtung!“ stramm stehen. Ein Wort, bei dem man zusammen zuckt und an die Abgründe der deutschen Geschichte denken muss. Weg damit. Aber ach…..das Wort hat ja noch eine andere Bedeutung. Die Achtung vor dem Menschen. Ein Wort der Bewunderung, des Respekts….das sollte dann doch erhalten bleiben.

Den „Kanaken“ herzugeben, fällt einem türkisch-stämmigen Jugendlichen schwer. Ein schlimmes Wort. Eine Beleidigung. Andererseits – auch ein Wort, das man manchmal wie eine Auszeichnung trägt. Die schlimmsten, beleidigenden Wörter lassen sich manchmal positiv umwerten. Funktioniert aber nicht immer. In der Linguistik nennt man diese Umwertung  „Geusen“. Das umgewertete Wort ist ein „Geusenwort“. Klingt ziemlich bescheuert und dürfte kaum bekannt sein. Da müsste mal was Besseres her. Für den Umgang mit diskriminierenden Worte gibt es übrigens auch den Begriff „Stigma Management“….brrrr. Neben Werbetextern, Medien, Politikern und fehlgeleiteten Jugendlichen sind auch die Soziologen geübte Unworterfinder.

Schwul ist auch so ein „Geusenwort“. Ursprünglich ein Schimpfwort, wird es mittlerweile auch als positive Selbstbezeichnung benutzt. Nur die Schüler wissen davon noch nichts. Auf dem Schulhof gehört es neben „behindert“ zu den Klassikern der Beleidigungen. Eine multikulturell pubertierende Dreiergruppe druckst und flüstert vor meinem Schreibtisch und sondert schliesslich „Schwulette“ ab. Soll wohl beleidigend sein, klingt aber ganz nett, oder?

Daneben wurden aber auch Liebe, Hase, Reiskorn und selbst der Tod entsorgt. Mit dem „Tod“ ist es umgekehrt wie mit der „Entschuldigung“. Tod spricht sich zu leicht, fast läppisch angesichts des gigantischen Mysteriums, das sich mit all seinen Ängsten und Erwartungen dahinter verbirgt. Wollen wir den Tod schon mit der Sprache an den Rand unseres Lebens drängen? Eine einfache Lösung wäre es, die Begriffe Tod und Entschuldigung auszutauschen. Dann ist doch alles im Lot und ich könnte nach Hause gehen.

Ach ja, hr2kultur war vor Ort….die Redakteurin beginnt gleich, mir zu assistieren und hält alten wie jungen Passanten, Müllmännern und Toilettenfrauen erst mal das Mikrophon mit dem HR Logo unter die Nase und fordert „ein überflüssiges Wort“ – aber pronto. Bürolandschaft hat sie erjagt. Ein spannendes Wort, klingt paradox und nach einem zeitgenössischen Euphemismus. Ist aber ein Konzept aus den 1950er Jahren. Die Redakteurin hat auch selbst ein Wort abzugeben. Anmutung findet sie ganz grässlich. Gesendet wird der Beitrag am Di., 31.5., 6:45 und 10:25 bei hr2kultur.

Blog, 31.5. 13-18 Uhr

Worte oder Wörter? Was ist eigentlich der Unterschied? Geht beides und in welchem Fall oder muss es in jedem Fall Wörter heißen. Ein Anrufer, der bei hr2 kultur von meinem Projekt gehört hat, stellt die peinliche Frage. Ich weiß es nicht. Peinlich für einen Germanisten und Autor. Zugegeben, ein kniffliger Sonderfall der deutschen Sprache. Tatsächlich gib es nur im Deutschen für das Wort „Wort“ zwei Plurale.

Die ehrwürdige „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“ mahnt, den „Reichtum“ der deutschen Sprache zu erhalten und den inhaltlichen Unterschied zwischen beiden Formen zu respektieren. Der Duden erklärt: „Wörter“ bezeichnet beliebige einzelne Wörter, Wörter als lexikalische Einheit – alle Wörter mit x, zum Beispiel. Worte sind hingegen besondere, große Worte, aber auch Wortgruppen und Begriffe, z.B. die „letzten Worte“, das „die Worte Buddhas“, aber auch Aussprüche, Beteuerungen, Erklärungen.

Gute Frage: Geht es in meinem Büro um Wörter oder um Worte? Muss ich mein Büro umbenennen? Einerseits möchte ich alle möglichen Wörter, die Menschen nicht mehr brauchen. Andererseits haben diese Wörter als „überflüssige“ schon eine besondere Bedeutung, die über das Einzelwort hinausgeht. Ich nehme ja auch feststehende Begriffe auf, die aus mehreren Wörtern bestehen. Ich glaube, es treffen beide Bedeutungen zu. Eine Entscheidung fällt mir daher nicht leicht.

Im Übrigen geht es mir gar nicht so sehr um sprachliche Dudenkorrektheit. Als Künstler darf man sich zum Glück Freiheiten nehmen. Sonst wäre ich wohl Lehrer geworden. Apropos Korrektheit. Am ersten Tag wurde ich von einem arglistigen Lehrer gefragt, auf wie viele Wörter ich den Deutschen Wortschatz schätze. Eine fiese Fangfrage, denn schon der Duden selbst weist darauf hin, dass eine exakte Schätzung unmöglich ist, weil ständig neue Wörter gebildet und aus anderen Sprachen entlehnt werden. Und die Frage, was denn ein „deutsches“ Wort ist, lässt sich auch nicht beantworten. Zu sehr ist die deutsche Sprache von Anfang an klanglich und kulturell durchmischt – wie vermutlich die meisten Sprachen.

Leichter lässt sich scheinbar der durchschnittliche aktive Wortschatz eines deutschen Sprechers ermitteln. Duden gibt ihn mit 12 000 – 15 000 an. Der durchschnittliche passive Wortschatz läge hingegen bei ca. 50 000 Wörtern. Die Schwankungsbreite dürfte jedoch erheblich sein.

Eines dieser „Wörter“ ist „Äppler“. Jemand möchte es aus seinem Wortschatz streichen. Offenbar kein Freund des sauren Stöffchens. Irrtum. Im Gegenteil. Ein traditionsbewusster Apfelweinkelterer auf dem Weg zum einem Kongress über das „Älterwerden“ klärt mich auf:  „Äppler“ sei ein Kunstbegriff, der von zwei Großkeltereien zu PR-Zwecken kreiert wurde. Der echte hessische Mundartbegriff sei „Ebbelwoi“ oder „Stöffche“. Ich muss zugeben, ich habe auch schon den ein oder anderen „Äppler“ bestellt. Er geht leichter über die Lippen, wenn man kein Mundartsprecher ist. Immerhin, versuche ich mich zu verteidigen, hat die „Äppler“ Kampagne das saure Getränk weit über Hessen hinaus populär gemacht. Eine gelungene PR-Strategie. Das ist doch eigentlich gut für die Apfelweinwirtschaft.

Ein weiteres Fettnäpfchen wartet auf mich, als mich der HR für ein Interview direkt im Büro anruft. Der HR hatte seine Hörer gebeten, sich an der Aktion per Telefon zu beteiligen. Neben dem typischen Unwort „Gutmensch“ hat auch jemand „genau“ als überflüssig gebrandmarkt. Ich merke sofort peinlich berührt, dass ich dieses Wort im Gespräch mit dem HR-Redakteur vor fast jeden Satz hänge. Selbst in vollem ertapptem Bewusstsein klebe ich das Wort wieder und wieder an meine Sätze, ein Sprachautomatismus, dem ich nicht entkommen kann. Andererseits hat das Wort aber auch eine Funktion, denke ich. Ich bestätige im Gespräch mein Gegenüber, stelle eine gemeinsame Gesprächsbasis und Vertrauen her. Ein typisches Verhalten am Anfang eines Gespräches, eine Variante des „Spiegelns“ vielleicht. Im Laufe des Gesprächs werde ich – wie viele andere – zunehmend kritischer.

Der Kongress zum Älterwerden spült auch einen heimatvertriebenen Schlesier an meinen Stand. Er möchte keine Worte abgeben. Die deutsche Sprache ist ihm wichtig, Wort für Wort. Außer den schlimmen Jugendwörtern. Wörtern mit „V“. Aber die will er nicht in den Mund nehmen und noch weniger aufschreiben. Nach dem Krieg hätte man ihm in Polen die deutsche Sprache rausgeprügelt und russisch und polnisch reingeprügelt. Später hätte er die Sprache mühsam neu lernen müssen. Jetzt will er sie behalten. Wort für Wort. Außer vielleicht, er grübelt angestrengt, außer „Hallo“. So eine respektlose Begrüßung. Das ist doch kein deutsches Wort, empört er sich.

Bei den jüngeren Besuchern sind erste Suchtverhaltensweisen erkennbar. Einige kommen jeden Tag wieder und drängen alle ihre Freunde, auch ein Wort abzugeben. Besonders eifrig ist ein junges Mädchen, das am letzten Tag zusammen mit ihrer Mädchenclique mindestens vier Mal auftaucht und jedes Mal noch ein Wort und noch ein Wort abgibt. Dann zieht sie sich kurz zurück, dann kommt sie wieder mit noch einem Wort und hat gleich drauf noch eins. Besserwisser ist nur eins von vielen…in der Tat ein unangenehmes Wort und auch ein unangenehmer Geselle. Sie überlässt mir so viele Wörter, dass ich Angst bekomme, ihr Wortschatz könnte ernsthaft Schaden nehmen. Nein, ich kann jetzt nicht jeden Tat hier sein und Worte einsammeln antworte ich auf ihre Frage. Vielleicht würde sie am liebsten ihre ganzen Worte hergeben und gegen Neue eintauschen.

Als ich einpacke, steht sie immer noch in der Nähe. Aber diesmal ist ein Mann bei ihr, vermutlich ihr Vater. Sie stehen ganz eng beisammen. Das Mädchen, das eben noch übersprudelte vor Ideen, ist jetzt ganz stumm und steif und sieht traurig aus. Ich frage sie, ob sie noch ein Wort hat, aber sie schütteln nur kurz den Kopf, ohne mich anzusehen. Ich frage den vermeintlichen Vater, aber auch er schüttelt nur kurz den Kopf. Dennoch bleiben beide lange stehen und schauen mir zu, wie ich abbaue.

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